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03.06.2014 11:03 Uhr | Quelle: WahreTabelle

„Brych ist mein Favorit für das Finale“

WahreTabelle.de exklusiv: Interview mit Schiedsrichterlegende Urs Meier.

Meier / England
Quelle: GettyImages
Sein schwerster Fall: Am 24. Juni 2004 hatte Referee Urs Meier (r.) im EURO-Viertelfinale mit Portugal und England keinen leichten Stand. Auch Englands Superstars David Beckham (m.) und Wayne Rooney hatten viele Fragen an den Schweizer...

Er war sieben Mal „Schiedsrichter des Jahres“ in der Schweiz, WM-Referee 1998 und 2002, leitete mehr als 880 Spiele – Urs Meier ist eine lebende Referee-Legende. Zu seiner neuen Internetpräsenz und dem Projekt www.united-referees.de läuft der Countdown, mit WahreTabelle-Redakteur Carsten Germann sprach der 55-Jährige über seinen WM-Final-Schiedsrichter 2014, eine gelbe Karte im Museum und Tipps für Jürgen Klopp.

WahreTabelle.de: Herr Meier, die Fußball-Weltmeisterschaft wirft ihre Schatten voraus. Dr. Felix Brych wird Deutschland in Brasilien als WM-Schiedsrichter vertreten. Ist er trotz des „Phantomtors“ von Sinsheim, das auch bei WahreTabelle.de heftig diskutiert wurde, die richtige Wahl?
Urs Meier: Auf jeden Fall! Ich finde es gut, dass das „Phantomtor“ für ihn persönlich nicht zum Stolperstein wurde. Es ist gut, dass die FIFA und UEFA ihr Vertrauen in ihn bewahrt haben.

Dr. Brych durfte bereits das Europa-League-Finale leiten. Ein Indiz dafür, dass er auch bei der WM in großen Spielen zu sehen sein wird?
Meier: Im Vorfeld der Welt- oder Europameisterschaft ein großes Finale zu bekommen, ist immer Chance und Risiko. Wenn dieses Spiel für den Schiedsrichter schlecht läuft, kann er beim folgenden Turnier Probleme mit der Nominierung für größere Partien bekommen. Aber wenn es gut läuft, so wie bei Felix in Turin, dann sieht man bei der FIFA: Dieser Referee ist gut drauf, der kann auch in der Finalrunde eingesetzt werden. Ich denke, dass Felix Brych zu den Favoriten für die K.o.-Runde gehört.

Was macht einen Referee eigentlich zum WM-Schiedsrichter? Welche Kriterien sind entscheidend? Ich denke, dass ein WM-Schiedsrichter zu den besten zehn Referees in Europa gehören muss, dass er unglaublich gutes Fußballverständnis braucht. Ausstrahlung, die Fähigkeit, gut mit Menschen umgehen zu können, und eine gute Kommunikation gehören ebenfalls dazu. Einem WM-Schiedsrichter darf keines dieser Puzzleteile fehlen. Es ist nicht einfach, sich als Schiedsrichter in Europa durchzusetzen, aber Felix Brych hat unheimlich dazugelernt, hat sich kontinuierlich verbessert und er hat die WM-Teilnahme verdient. Ich habe bereits vor sechs oder sieben Jahre gesagt, dass er das Potenzial für eine Weltmeisterschaft hat.

Wie sieht die optimale Vorbereitung eines WM-Referees aus? Im Vorfeld der WM in Brasilien wurden von Spielern und Trainern immer wieder die besonderen klimatischen Bedingungen angesprochen…
Die Vorbereitung auf eine Weltmeisterschaft beginnt früh, fast schon vor der Nominierung. Man spürt ja als Schiedsrichter, ob man eine WM-Chance hat oder nicht. Deshalb muss man körperlich in Topform sein, frei von psychischen Problemen, frei von Druck. Außerdem muss man gute Spiele in der Champions League machen, sich mit den Mentalitäten der Teilnehmerländer auseinandersetzen. Die FIFA macht mit den Schiedsrichtern einige Vorbereitungslehrgänge, man kommt sehr früh in Brasilien zusammen, bereitet die Referees vor und versucht, den Druck ein wenig herauszunehmen. Aber generell gilt: Es ist ein langer Weg bis zu einer WM.

Wie haben Sie sich beispielsweise auf die WM 2002 in Asien vorbereitet? Eigentlich kann man sich gar nicht so speziell vorbereiten. Man wird im Turnierverlauf oft auch überrascht, muss Gegebenheiten so akzeptieren, wie sie sind. Wir hatten 2002 ein Trainingslager in Südkorea, während ein anderer Teil der nominierten Schiedsrichter sich in Tokio vorbereitete und dort komplett andere klimatische Verhältnisse vorfand – mit viel Regen und Kälte – als wir in Korea.

Und während des Turniers…? Vor Ort kannst du in einem Turnier als Schiedsrichter absolut nichts simulieren. Ich hatte eines der schnellsten Spiele bei 35 Grad – Südkorea gegen die USA – mit zwei physisch sehr starken Mannschaften. Sie gingen 90 Minuten hohes Tempo und ich musste dieses Tempo mitgehen. Die Kondition darf deshalb gerade bei einer WM für den Schiedsrichter nie ein Thema sein.

Bei Weltmeisterschaften befürchten Fans und Medien fast immer, dass Schiedsrichter aus Afrika, Asien oder Nord- und Mittelamerika mit der Leitung von großen Spielen überfordert sind. Ist das ein berechtigter Einwand? Das ist immer wieder ein Diskussionspunkt! Eine Weltmeisterschaft ist vergleichbar mit der Formel 1. Die Schiedsrichter aus Afrika, Asien oder Nord- und Mittelamerika kennen dieses hohe Spieltempo nicht. Sie kommen – um beim Motorsport zu bleiben – quasi ohne Proberunde von der DTM direkt in die Formel 1. Wir sehen bei der WM aber Hochgeschwindigkeitsfußball von den großen Teams wie Argentinien, Brasilien, Deutschland oder Spanien. Die sind noch etwas schneller unterwegs als die anderen. Das Problem ist nun, dass die Schiedsrichter aus Afrika oder Asien dieses hohe Tempo aus den Spielen auf ihrem Kontinent nicht kennen. Sie haben keine Champions League, keine Premier League, keine Bundesliga. Generell müssten diese Schiedsrichter daher mehr in diesen großen Spielen in Europa eingesetzt werden, dann wären sie das Niveau bei einer WM besser gewohnt. Warum sollte ein US-Amerikaner oder ein Kanadier nicht einmal ein Spiel in der Premier League leiten?

Wer ist Ihr persönlicher Favorit als Final-Schiedsrichter in Brasilien? Das ist Dr. Felix Brych aus Deutschland. Howard Webb aus England, den ich ebenfalls sehr schätze, hat ja bereits 2010 „sein“ WM-Finale gehabt.

Das würde bedeuten, dass Deutschland spätestens im Viertelfinale scheitert… Meier (lacht): Schauen wir mal…

Wie sehen Sie als Ex-Schiedsrichter die Fußball-Community WahreTabelle.de? Ich kenne WahreTabelle.de, es ist faszinierend. Man zieht das Portal als Ex-Schiedsrichter immer wieder heran, zum Beispiel beim Phantomtor in Sinsheim oder beim Pokalfinale – und man merkt, welche Konsequenzen Fehlentscheidungen haben.

In Deutschland gab es zuletzt nach dem DFB-Pokalfinale mit Borussia Dortmund und dem FC Bayern München neue Diskussionen um die Torlinientechnik. Ihr Kollege, Florian Meyer, der den Dortmunder Treffer im Finale in Berlin nicht gab, hatte sich im Januar in einem WahreTabelle-Interview pro Torlinientechnik ausgesprochen. Wie stehen Sie technischen Hilfsmitteln für Schiedsrichter gegenüber? Ich persönlich bin schon seit 15 Jahren Verfechter der Torlinientechnik. Ich darf sagen, dass ich bei der FIFA dabei war, als diese Technik 2006 erstmals getestet wurde. Damals, das muss man fairerweise sagen, war die Technik aber noch nicht soweit. Sie konnte noch nicht mit der Sicherheit arbeiten, die wir uns gewünscht hätten. Die Technik darf nicht nur 90-prozentige Sicherheit liefern, sondern sie muss nahezu hundertprozentige Gewissheit geben, ob ein Tor vorliegt oder nicht. In der Premier League gibt es die Torlinientechnik nun seit der letzten Saison, bei der WM wird es sie geben, das ist eine unglaubliche Entlastung für die Schiedsrichter. 

In der Bundesliga scheuten die Klubs bei ihrer Abstimmung im März unter anderem die angeblich zu hohen Kosten, lehnten die Torlinientechnik ab. Wären Torrichter eine Alternative? Die Bundesliga ist eine der besten Ligen der Welt, wenn hier keine solche Technik eingesetzt wird, ja wo denn dann? Dass es ausgerechnet im Pokalfinale so eine Torszene gab, war Wasser auf die Mühlen aller Befürworter der Torlinientechnik. Hätte Dortmund gewonnen, wäre die Diskussion sicher nicht neu angestoßen worden. Aber: Man weiß nie, wann und in welchem Spiel es solche Szenen gibt und deshalb muss man sich dieser Technik öffnen. Im Extremfall ist auch ein Torrichter nicht absolut sicher. Das Problem lässt sich nur durch Torlinientechnik lösen.

Also kein künstlicher Eingriff in das Spiel…? Nein, im Gegenteil. In England gibt es ein schönes Video mit José Mourinho, wo er genau sieht, ob der Ball im Tor ist und zum Schiedsrichter schaut. Das sind tolle Szenen. Das Spiel geht entspannter weiter, der Schiedsrichter weiß, in so einem Moment, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat und er hat weniger Druck. Ich glaube auch, dass die Zuschauer einen regulären und fairen Ausgang haben wollen. Im DFB-Pokalfinale wollte sicher niemand, dass ein reguläres Tor nicht anerkannt wird.

Wie stehen Sie zu anderen Regelmodifikationen, etwa zur Nachspielzeit, die gerade beim Champions-League-Finale mit Real und Atlético in der Diskussion war, oder zu Hilfsmitteln wie dem Freistoßspray? Das Freistoßspray ist für mich ein unnötiges Accessoire. Wenn ein Schiedsrichter eine Abwehrmauer bei einem Freistoß nicht auf 9,15 Meter stellen kann, hat er Defizite in der Persönlichkeit – und dürfte dann auch nicht in einer hohen Liga pfeifen und erst recht nicht bei einer Weltmeisterschaft. Die Nachspielzeit ist meistens nicht gut geregelt! In der Schweiz z. B. zählen bei einer Auswechselung 30 Sekunden Nachspielzeit, und bei sechs Wechseln macht das drei Minuten Nachspielzeit. Es kann nicht sein, dass willkürlich variiert wird. Gerade in der Bundesliga war das oft nicht klar, das sorgt immer wieder für riesige Diskussionen, weil es weder die Spieler noch die Zuschauer nachvollziehen können. Im Champions-League-Finale war die Nachspielzeit grenzwertig – und hat ebenfalls für Diskussionen gesorgt. Wo das Regelwerk zu viel Interpretationsspielraum gibt, wird es immer Diskussionen geben.

Sie waren 1998 und 2002 bei einer Weltmeisterschaft im Einsatz, leiteten unter anderem das brisante Duell USA gegen Iran (1:2) am 21. Juni 1998 in Lyon. Nimmt man solche politische Dimensionen bei einem Spiel als Schiedsrichter wahr?
Natürlich! Das gehört zu einer guten Vorbereitung dazu. Auch 2002 hatte ich ein politisch brisantes Duell zu leiten, Co-Gastgeber Südkorea gegen die USA. Das war mindestens genauso spannend wie vier Jahre zuvor beim Spiel USA gegen Iran. Die jungen Koreaner mögen die Amerikaner nämlich überhaupt nicht. Das Public Viewing war pikanterweise genau neben der US-Botschaft. Man muss solche Spiele sehr feinfühlig leiten, muss versuchen, diese politische Angespanntheit von außen wahrzunehmen.

Wie kann das funktionieren? Das fängt bei den Zuschauern an und hört bei den Verantwortlichen auf. Du musst versuchen, diesen Druck herauszunehmen und für ein friedliches, faires Miteinander sorgen. Das ist etwas, was Du als Schiedsrichter stark beeinflussen kannst, wofür du aber auch eine Menge Erfahrung brauchst.

Die WM-Partie, mit der Sie bei den deutschen Fans in besonderer Erinnerung sind, war das Halbfinale 2002 gegen Südkorea und die gelbe Karte für Michael Ballack, der damit im Finale gesperrt war. Wie sehr hat Sie diese Entscheidung im Nachhinein bewegt? Michael Ballack war nicht der erste Spieler, der ein Endspiel wegen einer gelben Karte verpasst hat. Ich hatte bis dahin sechs Halbfinals in der Champions League geleitet, von daher wusste ich, dass es in einem Semifinale oft ganz viele gelbgefährdete Spieler gibt. Das ist für jeden Schiedsrichter etwas Bitteres. Man weiß, dass der Spieler den Höhepunkt seiner Karriere verpasst. Aber man muss eine bestimmte Linie auch in einem Halbfinale anwenden, jede gelbe Karte muss wasserdicht und nachvollziehbar sein. Die gelbe Karte von Ballack war wasserdicht, das hat er auch später selbst gesagt. Das Foulspiel hätte Carsten Ramelow machen müssen, nicht Ballack. Es tut immer wieder weh, die Szene ansehen zu müssen, aber ich bin dank dieser gelben Karte in Deutschland unglaublich populär. Ich habe die Karte dem Deutschen Fußball-Museum zur Verfügung gestellt. Das ist die berühmteste gelbe Karte im deutschen Fußball. Als Mensch hat mich diese gelbe Karte weitergebracht. Hätte ich sie nicht gezeigt, hätte ich an Persönlichkeit und Ansehen verloren. 1999 habe auch Roy Keane eine gelbe Karte gezeigt, durch die er im CL-Finale gegen den FC Bayern gesperrt war, ebenso Pavel Nedved von Juventus Turin, der 2003 im Finale gegen den AC Mailand fehlte. Dieses Risiko musst Du in einem zweiten Halbfinale einfach eingehen. Aber keiner dieser Spieler hat seine gelbe Karte im Nachhinein angezweifelt.

Wie war die Situation für Sie, als Sie im Viertelfinale der EURO 2004 zwischen England und Portugal das Tor von Sol Campbell annullierten und Sie danach exzessiv von englischen Fans und der Presse kritisiert und bedroht wurden? (Frage von WT-Administrator BertiDerwall). Nach dem Spiel war es so, dass wir im Gespann gesehen haben, dass die Entscheidung richtig war. Die Reaktion der englischen Medien war für mich unverständlich, die Zuschauer und die Leser wurden im Unklaren gelassen, über das, was ich gepfiffen habe. Das Foul ging im Spiel nicht von Campbell aus, sondern von John Terry. Er hat den portugiesischen Torhüter behindert. Das war der Grund, dieses Tor abzupfeifen. Trotzdem musste ich zehn Tage lang untertauchen, die Polizei hatte mir dazu geraten. Ich hatte keinen Kontakt zur Familie und zur Außenwelt, das beschäftigt einem schon. Ich habe zwei bis drei Monate gebraucht, um dieses Trauma zu überwinden. Wenn jemand in meiner Umgebung Englisch gesprochen hat, bin ich zusammengezuckt. Aber: Auch diese Entscheidung, diese Situation, haben mich als Mensch weitergebracht.

Wie geht man mit solchen Situationen um – möchte man sogar den Schiedsrichterjob quittieren? Nein, das nicht. Aber man ist angesichts so einer Medienkampagne einfach hilflos, bekommt wenig Schutz. Selbst dann, wenn man richtig gepfiffen hat. Man braucht sehr viel Selbstbewusstsein, um so eine Situation zu bewältigen.

Wie funktioniert bei internationalen Spielen die reibungslose Kommunikation auf dem Platz? Nicht jeder Spieler spricht doch sicheres Englisch, von daher kann es doch auch zu Missverständnissen kommen, oder? (Frage von don_riddle, Mitglied im Kompetenzteam von WahreTabelle.de) Gewisse Kommunikationen kommen beim Schiedsrichter nicht richtig an. Grundsätzlich: Je mehr Sprachen man als Schiedsrichter spricht, desto besser ist es. Die Kommunikation auf dem Platz ist einfach, aber die Ursachen für eine Tätlichkeit oder ein verstecktes Foul können auch bei gutem Sprachverständnis nicht immer erkannt werden. In der Regel kommuniziert man auf Englisch. Wenn du was durchsetzen willst und merkst, dass der Spieler dich nicht versteht, dann sprich in deiner Muttersprache.

Schiedsrichter sollen sich ja bekanntlich nicht vom Publikum beeinflussen lassen. Gab es Situationen, in denen Sie trotzdem eine gewisse Ehrfurcht vor der Kulisse hatten? (KT-Mitglied GladbacherFohlen) Nein, denn so eine große Kulisse sorgt für pure Gänsehaut, das ist einfach geil! Es ist eine positive Energie, die in solchen Stadien herrscht. Wenn du diese Energie nicht aufnehmen kannst, dann bist du am falschen Platz. Das darf dich nicht bremsen, sondern das muss dich pushen. Wenn ein Stadion aber politisch aufgeheizt ist, wenn negative Energie herrscht, z. B. im ehemaligen Jugoslawien mit Kroatien und Serbien, da musst du unglaublich wach sein. Aber du darfst dich nie von dieser negativen Energie anstecken lassen. Du darfst dich vom Publikum weder beeinflussen noch herunterziehen lassen.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie 2004 nach Ihrem letzten Spiel (FC Basel gegen FC Thun, d. Red.) den Schlusspfiff abgegeben haben? (KT-Mitglied rüpel) Ich habe das Spiel wie im Nebel geleitet, als wenn ich neben mir stehen würde. Ich dachte nur: Hoffentlich passiert dir kein Fehler, denn diesen Eindruck kannst du nie wieder korrigieren. So, wie Du heute abtrittst, so bleibst Du in Erinnerung. Ich hatte das Gefühl, als wenn alles in Watte gepackt wäre. Das Spiel lief, als wenn ich es mir zu Hause im Fernsehen angeschaut hätte. Du schaust auf die Uhr und weißt genau: Das ist dein letzter Pfiff. Nach dem Schlusspfiff war der Kapitän der Thuner bei mir, Andres Gerber (heute Sportchef beim FC Thun, d. Red.) und hat mich umarmt. Da kamen mir die Tränen. Es war ein sehr emotionaler Moment für mich, aber man konnte diese Gefühle auch gleich rauslassen. Es war irgendwie ein schönes Gefühl, weil man wusste, dass man keinen spielentscheidenden Fehler gemacht hat. Ein würdiger Abschluss, auch, weil viele Freunde von mir im Stadion waren und wir noch einen kleinen Empfang gegeben haben.

Sie blieben dem deutschen Fußballpublikum danach als Experte und „Fernsehschiedsrichter“ im ZDF erhalten. Wieviel Spaß haben die Analysen mit Johannes B. Kerner und Jürgen Klopp bei der WM 2006 in Deutschland und bei der EURO 2008 in Ihrer Schweizer Heimat und in Österreich gemacht?
Unendlich viel Spaß! Ich denke, uns verbindet ein unglaublich freundschaftliches Verhältnis. Die Eindrücke, die wir dort erlebt haben, möchte ich nicht missen. Das war ein Höhepunkt für mich außerhalb meiner Schiedsrichterkarriere. Ich habe nie eine schönere WM erleben dürfen – weder als Fan noch als Schiedsrichter – als 2006 in Deutschland. 

Wenn Sie noch in der Champions League aktiv wären, wie würden Sie den mitunter sehr temperamentvollen Jürgen Klopp bremsen? Am liebsten würde ich ihn bremsen, in dem ich so souverän pfeife, dass er sich gar nicht aufregen muss. Jürgen hat ein unglaubliches Gerechtigkeits-Gen in sich, er reagiert sehr schnell auf gefühlte Ungerechtigkeit. Wichtig ist dabei auch, einen besonnenen, empathischen vierten Mann an der Seitenlinie zu haben. Ich habe Klopp auch schon ein paar Tipps gegeben, wie er sich in der Coachingzone verhalten kann, aber ich habe immer gern Spieler und Trainer gehabt, die Leidenschaft zeigen. Mir ist ein Trainer lieber, der mir mit offenem Visier sagt, dass er mit meinen Entscheidungen nicht zufrieden ist, als ein Coach, der hinterher Giftpfeile abschießt und alles über die Medien austrägt.

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WahreTabelle.de: Herr Meier, die Fußball-Weltmeisterschaft wirft ihre Schatten voraus. Dr. Felix Brych wird Deutschland in Brasilien als WM-Schiedsrichter vertreten. Ist er trotz des „Phantomtors“ von Sinsheim, das auch bei WahreTabelle.de heftig diskutiert wurde, die richtige Wahl?
Urs Meier: Auf jeden Fall! Ich finde es gut, dass das „Phantomtor“ für ihn persönlich nicht zum Stolperstein wurde. Es ist gut, dass die FIFA und UEFA ihr Vertrauen in ihn bewahrt haben.

Dr. Brych durfte bereits das Europa-League-Finale leiten. Ein Indiz dafür, dass er auch bei der WM in großen Spielen zu sehen sein wird?
Meier: Im Vorfeld der Welt- oder Europameisterschaft ein großes Finale zu bekommen, ist immer Chance und Risiko. Wenn dieses Spiel für den Schiedsrichter schlecht läuft, kann er beim folgenden Turnier Probleme mit der Nominierung für größere Partien bekommen. Aber wenn es gut läuft, so wie bei Felix in Turin, dann sieht man bei der FIFA: Dieser Referee ist gut drauf, der kann auch in der Finalrunde eingesetzt werden. Ich denke, dass Felix Brych zu den Favoriten für die K.o.-Runde gehört.

Was macht einen Referee eigentlich zum WM-Schiedsrichter? Welche Kriterien sind entscheidend? Ich denke, dass ein WM-Schiedsrichter zu den besten zehn Referees in Europa gehören muss, dass er unglaublich gutes Fußballverständnis braucht. Ausstrahlung, die Fähigkeit, gut mit Menschen umgehen zu können, und eine gute Kommunikation gehören ebenfalls dazu. Einem WM-Schiedsrichter darf keines dieser Puzzleteile fehlen. Es ist nicht einfach, sich als Schiedsrichter in Europa durchzusetzen, aber Felix Brych hat unheimlich dazugelernt, hat sich kontinuierlich verbessert und er hat die WM-Teilnahme verdient. Ich habe bereits vor sechs oder sieben Jahre gesagt, dass er das Potenzial für eine Weltmeisterschaft hat.

Wie sieht die optimale Vorbereitung eines WM-Referees aus? Im Vorfeld der WM in Brasilien wurden von Spielern und Trainern immer wieder die besonderen klimatischen Bedingungen angesprochen…
Die Vorbereitung auf eine Weltmeisterschaft beginnt früh, fast schon vor der Nominierung. Man spürt ja als Schiedsrichter, ob man eine WM-Chance hat oder nicht. Deshalb muss man körperlich in Topform sein, frei von psychischen Problemen, frei von Druck. Außerdem muss man gute Spiele in der Champions League machen, sich mit den Mentalitäten der Teilnehmerländer auseinandersetzen. Die FIFA macht mit den Schiedsrichtern einige Vorbereitungslehrgänge, man kommt sehr früh in Brasilien zusammen, bereitet die Referees vor und versucht, den Druck ein wenig herauszunehmen. Aber generell gilt: Es ist ein langer Weg bis zu einer WM.

Wie haben Sie sich beispielsweise auf die WM 2002 in Asien vorbereitet? Eigentlich kann man sich gar nicht so speziell vorbereiten. Man wird im Turnierverlauf oft auch überrascht, muss Gegebenheiten so akzeptieren, wie sie sind. Wir hatten 2002 ein Trainingslager in Südkorea, während ein anderer Teil der nominierten Schiedsrichter sich in Tokio vorbereitete und dort komplett andere klimatische Verhältnisse vorfand – mit viel Regen und Kälte – als wir in Korea.

Und während des Turniers…? Vor Ort kannst du in einem Turnier als Schiedsrichter absolut nichts simulieren. Ich hatte eines der schnellsten Spiele bei 35 Grad – Südkorea gegen die USA – mit zwei physisch sehr starken Mannschaften. Sie gingen 90 Minuten hohes Tempo und ich musste dieses Tempo mitgehen. Die Kondition darf deshalb gerade bei einer WM für den Schiedsrichter nie ein Thema sein.

Bei Weltmeisterschaften befürchten Fans und Medien fast immer, dass Schiedsrichter aus Afrika, Asien oder Nord- und Mittelamerika mit der Leitung von großen Spielen überfordert sind. Ist das ein berechtigter Einwand? Das ist immer wieder ein Diskussionspunkt! Eine Weltmeisterschaft ist vergleichbar mit der Formel 1. Die Schiedsrichter aus Afrika, Asien oder Nord- und Mittelamerika kennen dieses hohe Spieltempo nicht. Sie kommen – um beim Motorsport zu bleiben – quasi ohne Proberunde von der DTM direkt in die Formel 1. Wir sehen bei der WM aber Hochgeschwindigkeitsfußball von den großen Teams wie Argentinien, Brasilien, Deutschland oder Spanien. Die sind noch etwas schneller unterwegs als die anderen. Das Problem ist nun, dass die Schiedsrichter aus Afrika oder Asien dieses hohe Tempo aus den Spielen auf ihrem Kontinent nicht kennen. Sie haben keine Champions League, keine Premier League, keine Bundesliga. Generell müssten diese Schiedsrichter daher mehr in diesen großen Spielen in Europa eingesetzt werden, dann wären sie das Niveau bei einer WM besser gewohnt. Warum sollte ein US-Amerikaner oder ein Kanadier nicht einmal ein Spiel in der Premier League leiten?

Wer ist Ihr persönlicher Favorit als Final-Schiedsrichter in Brasilien? Das ist Dr. Felix Brych aus Deutschland. Howard Webb aus England, den ich ebenfalls sehr schätze, hat ja bereits 2010 „sein“ WM-Finale gehabt.

Das würde bedeuten, dass Deutschland spätestens im Viertelfinale scheitert… Meier (lacht): Schauen wir mal…

Wie sehen Sie als Ex-Schiedsrichter die Fußball-Community WahreTabelle.de? Ich kenne WahreTabelle.de, es ist faszinierend. Man zieht das Portal als Ex-Schiedsrichter immer wieder heran, zum Beispiel beim Phantomtor in Sinsheim oder beim Pokalfinale – und man merkt, welche Konsequenzen Fehlentscheidungen haben.

In Deutschland gab es zuletzt nach dem DFB-Pokalfinale mit Borussia Dortmund und dem FC Bayern München neue Diskussionen um die Torlinientechnik. Ihr Kollege, Florian Meyer, der den Dortmunder Treffer im Finale in Berlin nicht gab, hatte sich im Januar in einem WahreTabelle-Interview pro Torlinientechnik ausgesprochen. Wie stehen Sie technischen Hilfsmitteln für Schiedsrichter gegenüber? Ich persönlich bin schon seit 15 Jahren Verfechter der Torlinientechnik. Ich darf sagen, dass ich bei der FIFA dabei war, als diese Technik 2006 erstmals getestet wurde. Damals, das muss man fairerweise sagen, war die Technik aber noch nicht soweit. Sie konnte noch nicht mit der Sicherheit arbeiten, die wir uns gewünscht hätten. Die Technik darf nicht nur 90-prozentige Sicherheit liefern, sondern sie muss nahezu hundertprozentige Gewissheit geben, ob ein Tor vorliegt oder nicht. In der Premier League gibt es die Torlinientechnik nun seit der letzten Saison, bei der WM wird es sie geben, das ist eine unglaubliche Entlastung für die Schiedsrichter. 

In der Bundesliga scheuten die Klubs bei ihrer Abstimmung im März unter anderem die angeblich zu hohen Kosten, lehnten die Torlinientechnik ab. Wären Torrichter eine Alternative? Die Bundesliga ist eine der besten Ligen der Welt, wenn hier keine solche Technik eingesetzt wird, ja wo denn dann? Dass es ausgerechnet im Pokalfinale so eine Torszene gab, war Wasser auf die Mühlen aller Befürworter der Torlinientechnik. Hätte Dortmund gewonnen, wäre die Diskussion sicher nicht neu angestoßen worden. Aber: Man weiß nie, wann und in welchem Spiel es solche Szenen gibt und deshalb muss man sich dieser Technik öffnen. Im Extremfall ist auch ein Torrichter nicht absolut sicher. Das Problem lässt sich nur durch Torlinientechnik lösen.

Also kein künstlicher Eingriff in das Spiel…? Nein, im Gegenteil. In England gibt es ein schönes Video mit José Mourinho, wo er genau sieht, ob der Ball im Tor ist und zum Schiedsrichter schaut. Das sind tolle Szenen. Das Spiel geht entspannter weiter, der Schiedsrichter weiß, in so einem Moment, dass er die richtige Entscheidung getroffen hat und er hat weniger Druck. Ich glaube auch, dass die Zuschauer einen regulären und fairen Ausgang haben wollen. Im DFB-Pokalfinale wollte sicher niemand, dass ein reguläres Tor nicht anerkannt wird.

Wie stehen Sie zu anderen Regelmodifikationen, etwa zur Nachspielzeit, die gerade beim Champions-League-Finale mit Real und Atlético in der Diskussion war, oder zu Hilfsmitteln wie dem Freistoßspray? Das Freistoßspray ist für mich ein unnötiges Accessoire. Wenn ein Schiedsrichter eine Abwehrmauer bei einem Freistoß nicht auf 9,15 Meter stellen kann, hat er Defizite in der Persönlichkeit – und dürfte dann auch nicht in einer hohen Liga pfeifen und erst recht nicht bei einer Weltmeisterschaft. Die Nachspielzeit ist meistens nicht gut geregelt! In der Schweiz z. B. zählen bei einer Auswechselung 30 Sekunden Nachspielzeit, und bei sechs Wechseln macht das drei Minuten Nachspielzeit. Es kann nicht sein, dass willkürlich variiert wird. Gerade in der Bundesliga war das oft nicht klar, das sorgt immer wieder für riesige Diskussionen, weil es weder die Spieler noch die Zuschauer nachvollziehen können. Im Champions-League-Finale war die Nachspielzeit grenzwertig – und hat ebenfalls für Diskussionen gesorgt. Wo das Regelwerk zu viel Interpretationsspielraum gibt, wird es immer Diskussionen geben.

Sie waren 1998 und 2002 bei einer Weltmeisterschaft im Einsatz, leiteten unter anderem das brisante Duell USA gegen Iran (1:2) am 21. Juni 1998 in Lyon. Nimmt man solche politische Dimensionen bei einem Spiel als Schiedsrichter wahr?
Natürlich! Das gehört zu einer guten Vorbereitung dazu. Auch 2002 hatte ich ein politisch brisantes Duell zu leiten, Co-Gastgeber Südkorea gegen die USA. Das war mindestens genauso spannend wie vier Jahre zuvor beim Spiel USA gegen Iran. Die jungen Koreaner mögen die Amerikaner nämlich überhaupt nicht. Das Public Viewing war pikanterweise genau neben der US-Botschaft. Man muss solche Spiele sehr feinfühlig leiten, muss versuchen, diese politische Angespanntheit von außen wahrzunehmen.

Wie kann das funktionieren? Das fängt bei den Zuschauern an und hört bei den Verantwortlichen auf. Du musst versuchen, diesen Druck herauszunehmen und für ein friedliches, faires Miteinander sorgen. Das ist etwas, was Du als Schiedsrichter stark beeinflussen kannst, wofür du aber auch eine Menge Erfahrung brauchst.

Die WM-Partie, mit der Sie bei den deutschen Fans in besonderer Erinnerung sind, war das Halbfinale 2002 gegen Südkorea und die gelbe Karte für Michael Ballack, der damit im Finale gesperrt war. Wie sehr hat Sie diese Entscheidung im Nachhinein bewegt? Michael Ballack war nicht der erste Spieler, der ein Endspiel wegen einer gelben Karte verpasst hat. Ich hatte bis dahin sechs Halbfinals in der Champions League geleitet, von daher wusste ich, dass es in einem Semifinale oft ganz viele gelbgefährdete Spieler gibt. Das ist für jeden Schiedsrichter etwas Bitteres. Man weiß, dass der Spieler den Höhepunkt seiner Karriere verpasst. Aber man muss eine bestimmte Linie auch in einem Halbfinale anwenden, jede gelbe Karte muss wasserdicht und nachvollziehbar sein. Die gelbe Karte von Ballack war wasserdicht, das hat er auch später selbst gesagt. Das Foulspiel hätte Carsten Ramelow machen müssen, nicht Ballack. Es tut immer wieder weh, die Szene ansehen zu müssen, aber ich bin dank dieser gelben Karte in Deutschland unglaublich populär. Ich habe die Karte dem Deutschen Fußball-Museum zur Verfügung gestellt. Das ist die berühmteste gelbe Karte im deutschen Fußball. Als Mensch hat mich diese gelbe Karte weitergebracht. Hätte ich sie nicht gezeigt, hätte ich an Persönlichkeit und Ansehen verloren. 1999 habe auch Roy Keane eine gelbe Karte gezeigt, durch die er im CL-Finale gegen den FC Bayern gesperrt war, ebenso Pavel Nedved von Juventus Turin, der 2003 im Finale gegen den AC Mailand fehlte. Dieses Risiko musst Du in einem zweiten Halbfinale einfach eingehen. Aber keiner dieser Spieler hat seine gelbe Karte im Nachhinein angezweifelt.

Wie war die Situation für Sie, als Sie im Viertelfinale der EURO 2004 zwischen England und Portugal das Tor von Sol Campbell annullierten und Sie danach exzessiv von englischen Fans und der Presse kritisiert und bedroht wurden? (Frage von WT-Administrator BertiDerwall). Nach dem Spiel war es so, dass wir im Gespann gesehen haben, dass die Entscheidung richtig war. Die Reaktion der englischen Medien war für mich unverständlich, die Zuschauer und die Leser wurden im Unklaren gelassen, über das, was ich gepfiffen habe. Das Foul ging im Spiel nicht von Campbell aus, sondern von John Terry. Er hat den portugiesischen Torhüter behindert. Das war der Grund, dieses Tor abzupfeifen. Trotzdem musste ich zehn Tage lang untertauchen, die Polizei hatte mir dazu geraten. Ich hatte keinen Kontakt zur Familie und zur Außenwelt, das beschäftigt einem schon. Ich habe zwei bis drei Monate gebraucht, um dieses Trauma zu überwinden. Wenn jemand in meiner Umgebung Englisch gesprochen hat, bin ich zusammengezuckt. Aber: Auch diese Entscheidung, diese Situation, haben mich als Mensch weitergebracht.

Wie geht man mit solchen Situationen um – möchte man sogar den Schiedsrichterjob quittieren? Nein, das nicht. Aber man ist angesichts so einer Medienkampagne einfach hilflos, bekommt wenig Schutz. Selbst dann, wenn man richtig gepfiffen hat. Man braucht sehr viel Selbstbewusstsein, um so eine Situation zu bewältigen.

Wie funktioniert bei internationalen Spielen die reibungslose Kommunikation auf dem Platz? Nicht jeder Spieler spricht doch sicheres Englisch, von daher kann es doch auch zu Missverständnissen kommen, oder? (Frage von don_riddle, Mitglied im Kompetenzteam von WahreTabelle.de) Gewisse Kommunikationen kommen beim Schiedsrichter nicht richtig an. Grundsätzlich: Je mehr Sprachen man als Schiedsrichter spricht, desto besser ist es. Die Kommunikation auf dem Platz ist einfach, aber die Ursachen für eine Tätlichkeit oder ein verstecktes Foul können auch bei gutem Sprachverständnis nicht immer erkannt werden. In der Regel kommuniziert man auf Englisch. Wenn du was durchsetzen willst und merkst, dass der Spieler dich nicht versteht, dann sprich in deiner Muttersprache.

Schiedsrichter sollen sich ja bekanntlich nicht vom Publikum beeinflussen lassen. Gab es Situationen, in denen Sie trotzdem eine gewisse Ehrfurcht vor der Kulisse hatten? (KT-Mitglied GladbacherFohlen) Nein, denn so eine große Kulisse sorgt für pure Gänsehaut, das ist einfach geil! Es ist eine positive Energie, die in solchen Stadien herrscht. Wenn du diese Energie nicht aufnehmen kannst, dann bist du am falschen Platz. Das darf dich nicht bremsen, sondern das muss dich pushen. Wenn ein Stadion aber politisch aufgeheizt ist, wenn negative Energie herrscht, z. B. im ehemaligen Jugoslawien mit Kroatien und Serbien, da musst du unglaublich wach sein. Aber du darfst dich nie von dieser negativen Energie anstecken lassen. Du darfst dich vom Publikum weder beeinflussen noch herunterziehen lassen.

Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie 2004 nach Ihrem letzten Spiel (FC Basel gegen FC Thun, d. Red.) den Schlusspfiff abgegeben haben? (KT-Mitglied rüpel) Ich habe das Spiel wie im Nebel geleitet, als wenn ich neben mir stehen würde. Ich dachte nur: Hoffentlich passiert dir kein Fehler, denn diesen Eindruck kannst du nie wieder korrigieren. So, wie Du heute abtrittst, so bleibst Du in Erinnerung. Ich hatte das Gefühl, als wenn alles in Watte gepackt wäre. Das Spiel lief, als wenn ich es mir zu Hause im Fernsehen angeschaut hätte. Du schaust auf die Uhr und weißt genau: Das ist dein letzter Pfiff. Nach dem Schlusspfiff war der Kapitän der Thuner bei mir, Andres Gerber (heute Sportchef beim FC Thun, d. Red.) und hat mich umarmt. Da kamen mir die Tränen. Es war ein sehr emotionaler Moment für mich, aber man konnte diese Gefühle auch gleich rauslassen. Es war irgendwie ein schönes Gefühl, weil man wusste, dass man keinen spielentscheidenden Fehler gemacht hat. Ein würdiger Abschluss, auch, weil viele Freunde von mir im Stadion waren und wir noch einen kleinen Empfang gegeben haben.

Sie blieben dem deutschen Fußballpublikum danach als Experte und „Fernsehschiedsrichter“ im ZDF erhalten. Wieviel Spaß haben die Analysen mit Johannes B. Kerner und Jürgen Klopp bei der WM 2006 in Deutschland und bei der EURO 2008 in Ihrer Schweizer Heimat und in Österreich gemacht?
Unendlich viel Spaß! Ich denke, uns verbindet ein unglaublich freundschaftliches Verhältnis. Die Eindrücke, die wir dort erlebt haben, möchte ich nicht missen. Das war ein Höhepunkt für mich außerhalb meiner Schiedsrichterkarriere. Ich habe nie eine schönere WM erleben dürfen – weder als Fan noch als Schiedsrichter – als 2006 in Deutschland. 

Wenn Sie noch in der Champions League aktiv wären, wie würden Sie den mitunter sehr temperamentvollen Jürgen Klopp bremsen? Am liebsten würde ich ihn bremsen, in dem ich so souverän pfeife, dass er sich gar nicht aufregen muss. Jürgen hat ein unglaubliches Gerechtigkeits-Gen in sich, er reagiert sehr schnell auf gefühlte Ungerechtigkeit. Wichtig ist dabei auch, einen besonnenen, empathischen vierten Mann an der Seitenlinie zu haben. Ich habe Klopp auch schon ein paar Tipps gegeben, wie er sich in der Coachingzone verhalten kann, aber ich habe immer gern Spieler und Trainer gehabt, die Leidenschaft zeigen. Mir ist ein Trainer lieber, der mir mit offenem Visier sagt, dass er mit meinen Entscheidungen nicht zufrieden ist, als ein Coach, der hinterher Giftpfeile abschießt und alles über die Medien austrägt.

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Mitglied seit: 11.04.2014

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Schönes Interview! Auch die Fragen der Community sind allesamt gut.
Hier werden mal wirklich anschaulich Gefühlslage und Belastungen eines Schiedsrichters erklärt.


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04.06.2014 13:03


laxus


Bor. Dortmund-FanBor. Dortmund-Fan


Mitglied seit: 09.02.2013

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Brych kann doch gar nicht pfeifen, wenn wir um den Titel spielen


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04.06.2014 12:58


Rüpel
Rüpel

Werder Bremen-FanWerder Bremen-Fan

Rüpel
Mitglied seit: 22.03.2011

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Beiträge: 3854

Klasse!

Ein super Interview. Schön, dass auch die Community-Fragen mit eingebunden wurden.

Danke dafür!


MfG


Allergiehinweis: Voranstehender Beitrag kann Spuren von Ironie enthalten! Falls sie keine Ironie vertragen, kontaktieren Sie bitte umgehend Ihren Hausarzt. Den interessiert das bestimmt genauso sehr wie mich. Danke!


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