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11.05.2016 07:33 Uhr | Quelle: WahreTabelle

Knut Kircher: „Es bleiben so viele positive Dinge“

Interview: Schiedsrichterlegende zieht Bilanz

Kircher / 2001
Quelle: Imago Sportfoto
Das Debüt: Eine Szene aus Knut Kirchers erstem Bundesliga-Spiel am 8. September 2001 im Münchner Olympiastadion, bei der Begegnung 1860 - 1. FC Nürnberg mit FCN-Legende David Jarolim (r.).

243 Bundesliga-Spiele und nur 17 Platzverweise – mit Knut Kircher (47) aus Rottenburg in Baden-Württemberg verabschiedet sich zum Saisonfinale eine echte Referee-Legende aus der Fußball-Bundesliga. Mit WahreTabelle-Redakteur Carsten Germann sprach der Schwabe, der seit 1997 im Profibereich des DFB pfeift, vor seinem Abschied über Rekord-Serien, Bayern-Spiele und Zukunftspläne.

WahreTabelle: Herr Kircher, am Wochenende nehmen sie nach 15 Jahren Bundesliga ihren Abschied als Schiedsrichter. Was überwiegt: Freude über die erreichte Leistung oder Erleichterung, nicht mehr allwöchentlich dem Stress und dem Beobachtungsdruck der ganzen Fußball-Nation ausgesetzt zu sein?

Knut Kircher: Nicht mehr allwöchentlich bei WahreTabelle zu stehen… (lacht) aber Spaß beiseite: Es überwiegt die Freude, dabei gewesen zu sein, über so lange Jahre.

Blickt man auf Ihre Bilanz als Bundesliga-Schiedsrichter, so sticht eine Zahl hervor: 17 Platzverweise – das ist der niedrigste Wert aller Bundesliga-Referees, die auf mehr als 200 Spiele kommen. Ehrt Sie das?

Kircher: Ich weiß nicht. Das ist alles Statistik, die mir ein Schmunzeln ins Gesicht bringt. Es waren sicherlich einige Situationen dabei, die knifflig waren, die Gelb-Rot oder Rot hätten nach sich ziehen können. Letztendlich war es aber nie mein Ziel, in dieser Statistik vorn zu stehen.

Was macht Ihre de-eskalierende Spielleitung aus – immerhin blieben Sie ja zwischen dem 16. April 2011 und dem 8. März 2014 in 49 Partien ohne Platzverweis und setzten damit eine weitere Bestmarke…

Kircher: Auch das ist ganz schwer zu beantworten… Ich kann nur Knut Kircher sein – mehr kann ich nicht tun. Ich will Mensch sein, authentisch sein und dennoch klare Entscheidungen treffen – scheinbar hat das geholfen.

Experten, aber auch die User von WahreTabelle beschreiben Sie immer wieder als sehr kommunikativen Schiedsrichter…

Kircher: Ein Bild von außen, über das man sich freut. Es ist mir wichtig, zu sagen: „Ich gehe respektvoll mit den Spielern um“, denn nur so kann ich Respekt zurückbekommen. Wenn man normal mit den Leuten umgeht, bekommt man auch ein normales Verhalten zurück. Dennoch muss man auf dem Platz klare Signale setzen.

Sie haben mit nahezu allen großen Spielern aus den letzten 15 Jahren auf dem Feld gestanden – in der Bundesliga und im internationalen Fußball. Welche Spielerpersönlichkeiten sind Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben – positiv wie negativ?

Kircher: Ich mag Spielertypen, mit denen man sich auf dem Platz auch mal reiben kann – Michael Ballack, Stefan Effenberg, Mats Hummels, Thomas Müller, Mark van Bommel oder – in der Vergangenheit – Mario Basler. Einfach Spieler, die Führungspersönlichkeiten sind, die einen auf dem Feld herausfordern. Aber: Diese Spieler wissen auch, dass das Ding nach 90 Minuten gegessen ist. Wenn ich in ein Bundesliga-Spiel gehe, weiß ich, dass jeder Spieler für sich das Optimum herausholen will – auch beim Schiedsrichter. Was ich nicht mag, sind linkische Typen… aber da will ich keine Namen nennen… also Spieler, die beim Leben ihrer Mutter schwören, dass sie kein Foul begangen haben, obwohl genau das Gegenteil der Fall war…

Im Jahr 2008 leiteten Sie das DFB-Pokalfinale zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund. Ein Höhepunkt Ihrer Schiedsrichterkarriere?

Kircher: Absolut! Ich glaube, dass dies für jeden Schiedsrichter ein Highlight ist, wenn er die Teams in Berlin ins Stadion führen darf, wenn die Nationalhymne gespielt wird und wenn man den Pokal sieht. Bei meinen nationalen Spielen war es das Pokalfinale, international waren die Spiele in Südkorea und in Libyen, Saudi-Arabien und Katar, wo ich im Schiedsrichter-Austausch zum Einsatz kam. Für diese Länder ist es nicht selbstverständlich, bei einer Weltmeisterschaft dabei zu sein – diese Freude am Fußball zu sehen, ist etwas ganz Tolles.

Insgesamt leiteten Sie keinen Verein häufiger als den FC Bayern München, den sie 43 Mal pfiffen. Wie kommen Sie auf diese hohe Anzahl an Bayern-Spielen?

Kircher: Da müssen sie die DFB-Ansetzer fragen, die die Schiedsrichter einteilen… es kann die regionale Nähe sein, ich weiß es nicht genau. Aber ich muss sagen: Ich habe mich überall wohlgefühlt, in allen Stadien in Deutschland. Ich hatte nie einen Verein auf dem Index. Wir haben in der ersten und zweiten Liga tolle Stadien, moderne Arenen, da freut man sich, dort einlaufen zu dürfen. Da ist es egal, wo Sie sind. Das Gänsehautfeeling hat man überall.

Welche Charaktereigenschaften muss ein Bundesliga-Schiedsrichter haben?

Kircher: Bundesliga-Schiedsrichter sind ehrliche, aufrichtige Typen, alles Wettkampftypen, ehrgeizig, aber fair. Und: Sie müssen vor allem entscheidungsfreudig sein.

Eine Szene, die Fußballfans in Deutschland wohl in Verbindung mit Ihnen als Schiedsrichter immer in Erinnerung bleiben wird, ist der leichte Schubser gegen den Münchner Christopher Schindler – viele „Löwen“-Anhänger und Beobachter sprachen hinterher von einem Weckruf, andere sahen die Kompetenzen des Schiedsrichters überschritten – wie haben Sie diese Szene wahrgenommen?

Kircher: Diese „legendäre Szene“… hatte eigentlich einen ganz einfachen Ursprung. Es wurde in diesem hektischen Relegationsspiel gegen Holstein Kiel ständig versucht, Situationen im Spiel auszuloten, wo man einen Vorteil bekommen kann. Damit meine ich Elfmeterszenen und so weiter. Herr Schindler war sehr emotional, was auch verständlich ist. Es hängt so viel an so einem Relegationsspiel. Da waren wir emotional nicht auf einer Wellenlänge und haben uns die Meinung gegeigt – aber ohne beleidigend zu werden. Im Nachhinein ist es sehr positiv dargestellt worden, aber es ist sicher keine Szene fürs Schiedsrichter-Lehrbuch. Vielleicht ist es einfach mal notwendig gewesen – und dann ist der „Vulkan Kircher“ mal kurzzeitig ausgebrochen. Ich kann im Nachhinein darüber schmunzeln. Wenn man die Bilder im Nachgang sieht, erschrickt man oft… man ist dann gespannt auf die öffentliche Reaktion und fragt sich auch: „Hätte man es anders lösen können?“

Wieviel Fingerspitzengefühl ist gefragt bei emotionalen Spielern und Trainern?

Kircher: Ich muss keinem Menschen noch emotionaler begegnen, der sowieso schon total aufgeheizt ist. Man muss den richtigen Augenblick abwarten. Wenn ein Trainer emotional auf Sie zugeht, dann werden Sie ihn im Moment nicht herunterpulsen können. Auf dem Spielfeld oder am Spielfeldrand als Vierter Offizieller müssen Sie ein Näschen für so eine Situation entwickeln. Letztendlich werden Sie da ganz viele Erfahrungen sammeln, da werden Sie sich als Schiedsrichter ein Werkzeugköfferchen zusammenbasteln, aber dennoch werden Sie nie eine Patentlösung haben. Die Erfahrung ist entscheidend.

Sie haben 2014 in einer viel beachteten Sky-Dokumentation über die Bundesliga-Schiedsrichter mitgewirkt. Braucht es solche Reportagen, um den Fans und den neutralen Beobachtern vor Augen zu führen, wie hart der Job eines Schiedsrichters tatsächlich ist?

Kircher: Ja, ich glaube für viele ist es eine Reduzierung des Schiedsrichterjobs auf 90 Minuten. Aber das ist falsch. Denn: Spieler reduziert man ja auch nicht auf 90 Minuten auf dem Rasen, der Profi muss jeden Tag hart trainieren. Diese Präsenz auf dem Trainingsplatz oder im Fitnessstudio, die nimmt man so ja nicht wahr. Es ist schon gut, wenn in regelmäßigen Abständen auch die Vor- und Nachbereitung des Schiedsrichter-Alltags aufgezeigt wird und man sieht, dass der Schiedsrichter auch nur ein ganz normaler Mensch ist. Ich habe sehr viele positive Reaktionen bekommen und war froh, dass so eine Reportage einmal gemacht wurde.

Immer wieder wird in der Bundesliga über technische Hilfsmittel diskutiert. 2015 kam die Torlinientechnik, im kommenden Jahr wird es einen Testlauf für den Video-Beweis geben. Ist der Fußball auf dem Weg, von zu viel Technik entemotionalisiert zu werden oder sind dies alles wichtige Hilfsmittel für die Schiedsrichter? 

Kircher: Ich glaube nicht nur, dass es für die Schiedsrichter wichtige Hilfsmittel sind! Der Fußball ist in seiner Dynamik weiterentwickelt als noch vor ein paar Jahren. Früher hatten wir als Schiedsrichterassistenten zwei klobige Holzfahnen, zwei „Holzprügel“ mit einem Lappen dran. Kommuniziert wurde über gut verabredete Zeichen. Dann kamen die Funkfahnen, das Headset, die Kommunikation wurde besser, schließlich wurde das „Hawk Eye“ eingeführt. Ich sage: Absolut gut, wenn wir damit belastende Emotionen und schwere Entscheidungen von den Schiedsrichtern wegnehmen können. Letztendlich geht es nun einen Schritt weiter, in Richtung Video-Beweis. Auch da muss ich sagen: Warum nicht? Den Schiedsrichtern und auch mir wären damit sicherlich viele strittige Entscheidungen erspart geblieben.

Und dennoch... 

Kircher: ...gibt es nicht nur Schwarz-Weiß-Entscheidungen! Es wird immer noch viele Grauentscheidungen geben, die auch nach mehrfacher Betrachtung zu unterschiedlichen Lösungen führen werden – das wird trotz Video-Beweis auch weiter diskutiert werden. Diese herrlichen Stammtischdiskussionen, die Sportsendungen, die emotionalen Aussagen nach dem Abpfiff werden bleiben. Wir haben in Sachen richtige Entscheidungen als Schiedsrichter dennoch eine hohe Trefferquote, aber der Video-Beweis wird die ganz heiß umstrittenen Szenen aus der Diskussion herausnehmen.

WahreTabelle ist die Fußball-Community für Schiedsrichter-Entscheidungen. Wie sehen Sie unsere Seite und wird auch im Kollegenkreis über das Portal gesprochen? 

Kircher: Natürlich, denn letztendlich berichten Sie über die Schiedsrichter. Die Begrifflichkeiten wie ,,spielentscheidende Szenen“, finde ich allerdings, wie zuletzt beim CL-Halbfinale FC Bayern – Atletico Madrid nicht immer ganz zutreffend. Ein verhängter Strafstoß muss nicht spielentscheidend sein. Der Strafstoß von Torres, um beim Beispiel zu bleiben, wurde ja auch nicht verwandelt. Was mir gefällt: Es ist eine Plattform, auf der herzhaft über Schiedsrichterentscheidungen diskutiert werden kann und wenn man als Referee mit Abstand zu den Spielen reinschaut, kann man über manche Kommentare schmunzeln.

Viele Top-Schiedsrichter wie Herbert Fandel, Hellmut Krug oder der legendäre Johannes Malka schlugen nach Ende ihrer aktiven Karriere die Funktionärslaufbahn ein. Wäre ein solcher Job für Sie auch denkbar?

Kircher: Man überlegt sich vorher: Eigentlich habe ich einen riesigen Rucksack an Erlebtem, an Erfahrungen – man denkt dann eher Richtung Coaching oder Schiedsrichter-Beobachter, das kann ich mir vorstellen und da laufen auch Gespräche. Mal schauen, was sich ergibt.

Was nehmen Sie mit aus 15 Jahren Schiedsrichterleben in der Bundesliga und in den internationalen Wettbewerben? 

Kircher: Die wichtigste Erfahrung für mich: Sie können es nicht jedem Recht machen! Man muss als Schiedsrichter Entscheidungen treffen und diese Entscheidungen haben Wirkung. Aber: Man erlebt so viel Positives, erfährt so viel Horizont-Erweiterung, sammelt einen unheimlichen Erfahrungsschatz, erlebt Spiele mit tollen Anekdoten, rückblickend denkt man an so viele positive Dinge. Man zieht positive Energie aus dieser Schiedsrichter-Tätigkeit.

Ihre Lieblingsanekdote…? 

Kircher: Da gibt es viele…(lacht), dies ergibt sich immer wieder aus den Charakteren, aus den Typen auf dem Spielfeld.

 

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WahreTabelle: Herr Kircher, am Wochenende nehmen sie nach 15 Jahren Bundesliga ihren Abschied als Schiedsrichter. Was überwiegt: Freude über die erreichte Leistung oder Erleichterung, nicht mehr allwöchentlich dem Stress und dem Beobachtungsdruck der ganzen Fußball-Nation ausgesetzt zu sein?

Knut Kircher: Nicht mehr allwöchentlich bei WahreTabelle zu stehen… (lacht) aber Spaß beiseite: Es überwiegt die Freude, dabei gewesen zu sein, über so lange Jahre.

Blickt man auf Ihre Bilanz als Bundesliga-Schiedsrichter, so sticht eine Zahl hervor: 17 Platzverweise – das ist der niedrigste Wert aller Bundesliga-Referees, die auf mehr als 200 Spiele kommen. Ehrt Sie das?

Kircher: Ich weiß nicht. Das ist alles Statistik, die mir ein Schmunzeln ins Gesicht bringt. Es waren sicherlich einige Situationen dabei, die knifflig waren, die Gelb-Rot oder Rot hätten nach sich ziehen können. Letztendlich war es aber nie mein Ziel, in dieser Statistik vorn zu stehen.

Was macht Ihre de-eskalierende Spielleitung aus – immerhin blieben Sie ja zwischen dem 16. April 2011 und dem 8. März 2014 in 49 Partien ohne Platzverweis und setzten damit eine weitere Bestmarke…

Kircher: Auch das ist ganz schwer zu beantworten… Ich kann nur Knut Kircher sein – mehr kann ich nicht tun. Ich will Mensch sein, authentisch sein und dennoch klare Entscheidungen treffen – scheinbar hat das geholfen.

Experten, aber auch die User von WahreTabelle beschreiben Sie immer wieder als sehr kommunikativen Schiedsrichter…

Kircher: Ein Bild von außen, über das man sich freut. Es ist mir wichtig, zu sagen: „Ich gehe respektvoll mit den Spielern um“, denn nur so kann ich Respekt zurückbekommen. Wenn man normal mit den Leuten umgeht, bekommt man auch ein normales Verhalten zurück. Dennoch muss man auf dem Platz klare Signale setzen.

Sie haben mit nahezu allen großen Spielern aus den letzten 15 Jahren auf dem Feld gestanden – in der Bundesliga und im internationalen Fußball. Welche Spielerpersönlichkeiten sind Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben – positiv wie negativ?

Kircher: Ich mag Spielertypen, mit denen man sich auf dem Platz auch mal reiben kann – Michael Ballack, Stefan Effenberg, Mats Hummels, Thomas Müller, Mark van Bommel oder – in der Vergangenheit – Mario Basler. Einfach Spieler, die Führungspersönlichkeiten sind, die einen auf dem Feld herausfordern. Aber: Diese Spieler wissen auch, dass das Ding nach 90 Minuten gegessen ist. Wenn ich in ein Bundesliga-Spiel gehe, weiß ich, dass jeder Spieler für sich das Optimum herausholen will – auch beim Schiedsrichter. Was ich nicht mag, sind linkische Typen… aber da will ich keine Namen nennen… also Spieler, die beim Leben ihrer Mutter schwören, dass sie kein Foul begangen haben, obwohl genau das Gegenteil der Fall war…

Im Jahr 2008 leiteten Sie das DFB-Pokalfinale zwischen dem FC Bayern München und Borussia Dortmund. Ein Höhepunkt Ihrer Schiedsrichterkarriere?

Kircher: Absolut! Ich glaube, dass dies für jeden Schiedsrichter ein Highlight ist, wenn er die Teams in Berlin ins Stadion führen darf, wenn die Nationalhymne gespielt wird und wenn man den Pokal sieht. Bei meinen nationalen Spielen war es das Pokalfinale, international waren die Spiele in Südkorea und in Libyen, Saudi-Arabien und Katar, wo ich im Schiedsrichter-Austausch zum Einsatz kam. Für diese Länder ist es nicht selbstverständlich, bei einer Weltmeisterschaft dabei zu sein – diese Freude am Fußball zu sehen, ist etwas ganz Tolles.

Insgesamt leiteten Sie keinen Verein häufiger als den FC Bayern München, den sie 43 Mal pfiffen. Wie kommen Sie auf diese hohe Anzahl an Bayern-Spielen?

Kircher: Da müssen sie die DFB-Ansetzer fragen, die die Schiedsrichter einteilen… es kann die regionale Nähe sein, ich weiß es nicht genau. Aber ich muss sagen: Ich habe mich überall wohlgefühlt, in allen Stadien in Deutschland. Ich hatte nie einen Verein auf dem Index. Wir haben in der ersten und zweiten Liga tolle Stadien, moderne Arenen, da freut man sich, dort einlaufen zu dürfen. Da ist es egal, wo Sie sind. Das Gänsehautfeeling hat man überall.

Welche Charaktereigenschaften muss ein Bundesliga-Schiedsrichter haben?

Kircher: Bundesliga-Schiedsrichter sind ehrliche, aufrichtige Typen, alles Wettkampftypen, ehrgeizig, aber fair. Und: Sie müssen vor allem entscheidungsfreudig sein.

Eine Szene, die Fußballfans in Deutschland wohl in Verbindung mit Ihnen als Schiedsrichter immer in Erinnerung bleiben wird, ist der leichte Schubser gegen den Münchner Christopher Schindler – viele „Löwen“-Anhänger und Beobachter sprachen hinterher von einem Weckruf, andere sahen die Kompetenzen des Schiedsrichters überschritten – wie haben Sie diese Szene wahrgenommen?

Kircher: Diese „legendäre Szene“… hatte eigentlich einen ganz einfachen Ursprung. Es wurde in diesem hektischen Relegationsspiel gegen Holstein Kiel ständig versucht, Situationen im Spiel auszuloten, wo man einen Vorteil bekommen kann. Damit meine ich Elfmeterszenen und so weiter. Herr Schindler war sehr emotional, was auch verständlich ist. Es hängt so viel an so einem Relegationsspiel. Da waren wir emotional nicht auf einer Wellenlänge und haben uns die Meinung gegeigt – aber ohne beleidigend zu werden. Im Nachhinein ist es sehr positiv dargestellt worden, aber es ist sicher keine Szene fürs Schiedsrichter-Lehrbuch. Vielleicht ist es einfach mal notwendig gewesen – und dann ist der „Vulkan Kircher“ mal kurzzeitig ausgebrochen. Ich kann im Nachhinein darüber schmunzeln. Wenn man die Bilder im Nachgang sieht, erschrickt man oft… man ist dann gespannt auf die öffentliche Reaktion und fragt sich auch: „Hätte man es anders lösen können?“

Wieviel Fingerspitzengefühl ist gefragt bei emotionalen Spielern und Trainern?

Kircher: Ich muss keinem Menschen noch emotionaler begegnen, der sowieso schon total aufgeheizt ist. Man muss den richtigen Augenblick abwarten. Wenn ein Trainer emotional auf Sie zugeht, dann werden Sie ihn im Moment nicht herunterpulsen können. Auf dem Spielfeld oder am Spielfeldrand als Vierter Offizieller müssen Sie ein Näschen für so eine Situation entwickeln. Letztendlich werden Sie da ganz viele Erfahrungen sammeln, da werden Sie sich als Schiedsrichter ein Werkzeugköfferchen zusammenbasteln, aber dennoch werden Sie nie eine Patentlösung haben. Die Erfahrung ist entscheidend.

Sie haben 2014 in einer viel beachteten Sky-Dokumentation über die Bundesliga-Schiedsrichter mitgewirkt. Braucht es solche Reportagen, um den Fans und den neutralen Beobachtern vor Augen zu führen, wie hart der Job eines Schiedsrichters tatsächlich ist?

Kircher: Ja, ich glaube für viele ist es eine Reduzierung des Schiedsrichterjobs auf 90 Minuten. Aber das ist falsch. Denn: Spieler reduziert man ja auch nicht auf 90 Minuten auf dem Rasen, der Profi muss jeden Tag hart trainieren. Diese Präsenz auf dem Trainingsplatz oder im Fitnessstudio, die nimmt man so ja nicht wahr. Es ist schon gut, wenn in regelmäßigen Abständen auch die Vor- und Nachbereitung des Schiedsrichter-Alltags aufgezeigt wird und man sieht, dass der Schiedsrichter auch nur ein ganz normaler Mensch ist. Ich habe sehr viele positive Reaktionen bekommen und war froh, dass so eine Reportage einmal gemacht wurde.

Immer wieder wird in der Bundesliga über technische Hilfsmittel diskutiert. 2015 kam die Torlinientechnik, im kommenden Jahr wird es einen Testlauf für den Video-Beweis geben. Ist der Fußball auf dem Weg, von zu viel Technik entemotionalisiert zu werden oder sind dies alles wichtige Hilfsmittel für die Schiedsrichter? 

Kircher: Ich glaube nicht nur, dass es für die Schiedsrichter wichtige Hilfsmittel sind! Der Fußball ist in seiner Dynamik weiterentwickelt als noch vor ein paar Jahren. Früher hatten wir als Schiedsrichterassistenten zwei klobige Holzfahnen, zwei „Holzprügel“ mit einem Lappen dran. Kommuniziert wurde über gut verabredete Zeichen. Dann kamen die Funkfahnen, das Headset, die Kommunikation wurde besser, schließlich wurde das „Hawk Eye“ eingeführt. Ich sage: Absolut gut, wenn wir damit belastende Emotionen und schwere Entscheidungen von den Schiedsrichtern wegnehmen können. Letztendlich geht es nun einen Schritt weiter, in Richtung Video-Beweis. Auch da muss ich sagen: Warum nicht? Den Schiedsrichtern und auch mir wären damit sicherlich viele strittige Entscheidungen erspart geblieben.

Und dennoch... 

Kircher: ...gibt es nicht nur Schwarz-Weiß-Entscheidungen! Es wird immer noch viele Grauentscheidungen geben, die auch nach mehrfacher Betrachtung zu unterschiedlichen Lösungen führen werden – das wird trotz Video-Beweis auch weiter diskutiert werden. Diese herrlichen Stammtischdiskussionen, die Sportsendungen, die emotionalen Aussagen nach dem Abpfiff werden bleiben. Wir haben in Sachen richtige Entscheidungen als Schiedsrichter dennoch eine hohe Trefferquote, aber der Video-Beweis wird die ganz heiß umstrittenen Szenen aus der Diskussion herausnehmen.

WahreTabelle ist die Fußball-Community für Schiedsrichter-Entscheidungen. Wie sehen Sie unsere Seite und wird auch im Kollegenkreis über das Portal gesprochen? 

Kircher: Natürlich, denn letztendlich berichten Sie über die Schiedsrichter. Die Begrifflichkeiten wie ,,spielentscheidende Szenen“, finde ich allerdings, wie zuletzt beim CL-Halbfinale FC Bayern – Atletico Madrid nicht immer ganz zutreffend. Ein verhängter Strafstoß muss nicht spielentscheidend sein. Der Strafstoß von Torres, um beim Beispiel zu bleiben, wurde ja auch nicht verwandelt. Was mir gefällt: Es ist eine Plattform, auf der herzhaft über Schiedsrichterentscheidungen diskutiert werden kann und wenn man als Referee mit Abstand zu den Spielen reinschaut, kann man über manche Kommentare schmunzeln.

Viele Top-Schiedsrichter wie Herbert Fandel, Hellmut Krug oder der legendäre Johannes Malka schlugen nach Ende ihrer aktiven Karriere die Funktionärslaufbahn ein. Wäre ein solcher Job für Sie auch denkbar?

Kircher: Man überlegt sich vorher: Eigentlich habe ich einen riesigen Rucksack an Erlebtem, an Erfahrungen – man denkt dann eher Richtung Coaching oder Schiedsrichter-Beobachter, das kann ich mir vorstellen und da laufen auch Gespräche. Mal schauen, was sich ergibt.

Was nehmen Sie mit aus 15 Jahren Schiedsrichterleben in der Bundesliga und in den internationalen Wettbewerben? 

Kircher: Die wichtigste Erfahrung für mich: Sie können es nicht jedem Recht machen! Man muss als Schiedsrichter Entscheidungen treffen und diese Entscheidungen haben Wirkung. Aber: Man erlebt so viel Positives, erfährt so viel Horizont-Erweiterung, sammelt einen unheimlichen Erfahrungsschatz, erlebt Spiele mit tollen Anekdoten, rückblickend denkt man an so viele positive Dinge. Man zieht positive Energie aus dieser Schiedsrichter-Tätigkeit.

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