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25.09.2020 11:37 Uhr | Quelle: WahreTabelle

Schiedsrichterball: Ein Handspiel ist ein Handspiel?

Wie man den Videoassistenten transparenter machen kann

Johannes Gründel
Johannes Gründel
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Quelle: imago images
Der Videokeller in Köln sorgt mit seinen Entscheidungen des Öfteren für Diskussionen in der Bundesliga

Johannes Gründel
Johannes Gründel

Es war sicherlich kein einfaches Wochenende für Bibiana Steinhaus. Deutschlands Spitzenschiedsrichterin schob zum Restart eine Doppelschicht im Videoassist-Center in Köln. Zunächst unterstützte sie freitagabends Dr. Matthias Jöllenbeck bei dessen Leitung des Spiels zwischen dem SSV Jahn Regensburg und dem 1.FC Nürnberg, bevor Sie am Samstag als Videoassistentin von Benjamin Cortus im Schwäbisch-badischen Derby zwischen dem VfB Stuttgart und dem SC Freiburg fungierte. Dabei kam es in beiden Spielen zu Handspielszenen im Strafraum der jeweiligen Gästeteams, die von ihr bewertet werden mussten. In beiden Fällen war die Hand des Verteidigers – einmal Nürnbergs Enrico Valentini, einmal Freiburgs Philipp Lienhardt – jeweils weder direkt am Körper noch weit ausgestreckt, als sie den Ball berührte. Kurioserweise griff Steinhaus trotz vermeintlicher Ähnlichkeit beider Szenen am Freitag ein, nicht aber am Samstag. Um das zu verstehen, muss man sich zunächst die Handspielregel und dann die Eingriffsregelungen für den Videoassistenten vor Augen führen.

Wann ist ein Handspiel ein Handspiel?

Die beiden Szenen verdeutlichen den Graubereich, der beim Handspiel besteht, ganz gut. Besonders schwierig ist dabei die Beurteilung der Szene in Stuttgart. Man erkennt eine aktive Bewegung Lienhardts in Richtung des Balles, gleichzeitig ist die Hand jedoch zwar nicht direkt angelegt, aber noch nahe am Körper. In der Bewegung Richtung Ball kann man ein Indiz für ein absichtliches Handspiel erkennen, also dass Lienhardt den Ball mit der Hand spielen wollte. Dass allerdings nicht nur die Hand zum Ball geht, sondern der ganze Körper, spricht wiederum dafür, dass Lienhardt den Ball nicht mit der Hand, sondern mit der Brust bzw. der Schulter spielen wollte. Im Zweifel kann das nur Lienhardt beantworten. Man kann Spielern eben nicht in den Kopf schauen – und genau das war schon immer ein Problem der Handspielregel, die vorrangig danach gefragt hat, ob das Handspiel absichtlich erfolgt ist und dafür verschiedene Hilfskriterien zur Verfügung stellte (Bewegung Hand zum Ball oder umgekehrt? Handhaltung natürlich? Distanz, aus der der Ball kommt?).

Um diese Schwierigkeiten und den damit verbundenen Graubereich zu reduzieren, wurde die Handspielregel 2019 reformiert und stärker objektiviert. Zwar ist Absicht immer noch ein möglicher Grund für ein strafbares Handspiel, allerdings nicht mehr der Einzige. Auch hat man in der Praxis eher seltener Probleme mit absichtlichen Handspielen in diesem Sinne. Viel wichtiger sind die objektiven Kriterien, v.a. die Frage, ob der Spieler die Körperfläche in unnatürlicher Weise vergrößert hat. Das kann man besser beurteilen als die Frage, was im Kopf eines Spielers vorgeht. Der Spieler, der die Hand auf unnatürliche Weise vom Körper wegbewegt, geht das Risiko ein, mit dieser Hand den Ball zu berühren und dementsprechend ein Handspiel zu verursachen. Zwar wird man beim Freitagsspiel Valentini keine zielgerichtete Absicht unterstellen können, allerdings ist die Hand wohl weiter vom Körper entfernt als das notwendig ist. Das kann man als unnatürliche Handhaltung sehen, man kann es aber auch durch die Bewegung erklären. Auch hier befinden wir uns also nach wie vor im Graubereich.

Und wann greift der Videoassistent ein?

Warum also griff Bibiana Steinhaus am Freitag ein, am Samstag dagegen meldete sie sich nicht, obwohl doch beide Szenen (nur) im Graubereich lagen? Der Grund hierfür liegt in den zwei Eingriffsgründen des Videoassistenten. Anders als häufig in der öffentlichen Wahrnehmung behauptet, darf der Videoassistent nämlich nicht nur bei „klaren und offensichtlichen Fehlentscheidungen“ eingreifen, sondern auch bei „schwerwiegenden übersehenen Vorfällen“. Ein solcher schwerwiegender übersehener Vorfall liegt vor, wenn der Schiedsrichter bei einer der „Auslöserszenen“ (Rote Karte, Tor, Strafstoß, Spielerverwechslung) die Situation so wahrgenommen hat, dass sie in einem wesentlichen Punkt nicht mit den TV-Bildern in Einklang gebracht werden kann. Deshalb sieht man den Schiedsrichter bei Videochecks auch häufig mit dem Videoassistenten reden – er beschreibt hier seine Wahrnehmung. Dürfte der Videoassistent nur bei klaren und offensichtlichen Fehlentscheidungen eingreifen, könnte er das eigenständig in Köln entscheiden, Aussagen des Schiedsrichters bräuchte er dafür nicht.

Und genau das ist der Grund, warum Bibiana Steinhaus am Freitag eingegriffen hat. Schiedsrichter Dr. Matthias Jöllenbeck hatte das Handspiel als solches überhaupt nicht wahrgenommen. Seine Wahrnehmung der Szene (Kein Kontakt mit der Hand) lässt sich also mit den TV-Bildern, die einen Kontakt mit der Hand eindeutig zeigen, nicht vereinbaren. Am Samstag dagegen hatte Benjamin Cortus das Handspiel wahrgenommen, aufgrund er Handhaltung relativ nahe am Körper jedoch nicht als strafbar bewertet. Diese Wahrnehmung stimmt mit den TV-Bildern überein, damit liegt kein schwerwiegender übersehender Vorfall vor. In Betracht kommt also nur noch eine klare und offensichtliche Fehlentscheidung. Angesichts des Graubereichs kann man eine solche hier aber auch nicht annehmen. Generell kommt es so gut wie nie zum Eingriff wegen klarer und offensichtlicher Fehlentscheidungen, sondern fast immer wegen schwerwiegender übersehener Vorfälle. Das ist auch logisch: Die Schiedsrichter kennen die Regeln ja sehr gut und wenn sie die Szene richtig wahrnehmen, treffen Sie normalerweise keine falsche Entscheidung. Der Knackpunkt liegt meistens bei der Wahrnehmung der Szene.

Aber ist das nicht willkürlich und intransparent?

Dadurch erklären sich auch die vermeintlich willkürlichen und intransparenten Eingriffe bzw. Nichteingriffe der Videoassistenten: Ob sie eingreifen dürfen bzw. müssen, hängt in der Praxis meist von der Wahrnehmung des Schiedsrichters ab, die ist aber in jeder Szene unterschiedlich. Willkürlich ist das aber nicht, weil sich Willkür dadurch auszeichnet, dass die unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Szenen keinen sachlichen Grund hat. Die unterschiedliche Wahrnehmung stellt aber einen solchen sachlichen Grund dar. Intransparent ist das jedoch auf den ersten Blick. Entsprechende Transparenz könnte man aber nur mit einer Veröffentlichung des Funkverkehrs herstellen. Das ist aber zum einen schon datenschutzrechtlich fragwürdig, vor allem aber würde das die Effizienz der Entscheidungsfindung schmälern, weil Schiedsrichter und Videoassistent immer aufpassen müssten, ob man den Funk in der Öffentlichkeit – gerade ohne Kenntnis des „schiedsrichtertypischen Vokabulars“ – missverstehen könnte, statt frei von der Leber zu sprechen. Dadurch entstehen aber wiederum Missverständnisse im Funkverkehr und es kommt zu mehr Fehlern.

In meinen Augen ist eine ungleiche Behandlung (vermeintlich) gleicher Szenen bei unterschiedlichen Wahrnehmungen aber auch nicht tragisch, wenn man sich der Rolle des Videoassistenten als Assistenten – und eben nicht als Videobeweis – bewusst wird. Ein Assistent soll den Schiedsrichter unterstützen, nicht überstimmen. Das bringt aber mit sich, den Ermessensspielraum des Schiedsrichters zu respektieren, weshalb man nur eingreifen kann, wenn dieser Spielraum überschritten ist (klare offensichtliche Fehlentscheidung) – oder dem Schiedsrichter wesentliche Informationen fehlen bzw. er Fehlinformationen aufgesessen ist (schwerwiegender verpasster Vorfall).

Was wäre eine alternative Lösung?

Es gäbe tatsächlich zwei Möglichkeiten, das Intransparenz-Dilemma zu lösen. Man könnte den Schiedsrichter bei jeder in Betracht kommenden Szene, die nicht eindeutig richtig entschieden wurde, zum Bildschirm schicken, um die Situation anhand der Bilder neu zu bewerten. Das würde allerdings zu viel mehr On-Field-Reviews führen und den Spielfluss stören, außerdem würde das die Autorität der ersten Entscheidung schwächen.

Besser wäre dagegen die zweite Lösung: Die eigene Prüfungskompetenz des Videoassistenten beschränkt sich auf faktische Entscheidungen (z.B. Steht ein Spieler im Abseits? War der Ball an der Hand – Stichwort Offensivhandspiel? War der Ball im Aus?), die sich mit mathematischer Sicherheit und ohne jeden Spielraum beantworten lassen. Für die nicht-faktischen Entscheidungen, also solche, bei denen der Schiedsrichter etwas bewerten muss (z.B. Zweikampfbewertung, Eingreifen beim Abseits, Strafbarkeit des Handspiels), würde man dagegen ein Challenge-System einführen, das dann aber auch dazu führt, dass der Schiedsrichter die Szene (außer in klaren Missbrauchsfällen, die dann auch entsprechend sanktioniert werden müssten) am Bildschirm noch einmal neu bewerten muss. Dann wäre eindeutig geregelt, wann Videos zur Entscheidung herangezogen werden und wann die Entscheidung am Feld bestehen bleibt. Betrachtet man den Videoassistenten als Assistenten, könnte man dem Schiedsrichter noch die (aktuell übrigens auch bestehende) Kompetenz einräumen, die Videos selbst zu Rate zu ziehen. Dann müsste man aber empfindliche Strafen für das Fordern, von dieser Kompetenz Gebrauch zu machen, einführen. Andernfalls hätte man nämlich nach strittigen Entscheidungen eine Traube von Spielern um den Schiedsrichter, die fordern „Schau’s Dir nochmal selbst an!“, vor allem wenn das vermeintlich benachteiligte Team keine Challenge mehr hat. Das wären aber Details, die man dann regeln müsste und könnte.

Das IFAB aber ist kein Freund eines solchen Challengesystems, da man die Entscheidung nicht von den Profis (Schiedsrichter) in die Hände von (vermeintlichen) „Regellaien“ (Trainer) legen möchte. Das ist ein Stück weit nachvollziehbar. Mit Blick auf die wichtige Rolle der Transparenz bei der Akzeptanz wäre es aber wünschenswert, wenn man diese Blockadehaltung aufgeben und Testläufe zulassen würde. Wenn Fans und Öffentlichkeit verstehen, warum die Videobilder zur Rate gezogen werden oder nicht, wird die Akzeptanz des Videoassistenten erheblich steigen. Ein Versuch wäre es wert…

Es war sicherlich kein einfaches Wochenende für Bibiana Steinhaus. Deutschlands Spitzenschiedsrichterin schob zum Restart eine Doppelschicht im Videoassist-Center in Köln. Zunächst unterstützte sie freitagabends Dr. Matthias Jöllenbeck bei dessen Leitung des Spiels zwischen dem SSV Jahn Regensburg und dem 1.FC Nürnberg, bevor Sie am Samstag als Videoassistentin von Benjamin Cortus im Schwäbisch-badischen Derby zwischen dem VfB Stuttgart und dem SC Freiburg fungierte. Dabei kam es in beiden Spielen zu Handspielszenen im Strafraum der jeweiligen Gästeteams, die von ihr bewertet werden mussten. In beiden Fällen war die Hand des Verteidigers – einmal Nürnbergs Enrico Valentini, einmal Freiburgs Philipp Lienhardt – jeweils weder direkt am Körper noch weit ausgestreckt, als sie den Ball berührte. Kurioserweise griff Steinhaus trotz vermeintlicher Ähnlichkeit beider Szenen am Freitag ein, nicht aber am Samstag. Um das zu verstehen, muss man sich zunächst die Handspielregel und dann die Eingriffsregelungen für den Videoassistenten vor Augen führen.

Wann ist ein Handspiel ein Handspiel?

Die beiden Szenen verdeutlichen den Graubereich, der beim Handspiel besteht, ganz gut. Besonders schwierig ist dabei die Beurteilung der Szene in Stuttgart. Man erkennt eine aktive Bewegung Lienhardts in Richtung des Balles, gleichzeitig ist die Hand jedoch zwar nicht direkt angelegt, aber noch nahe am Körper. In der Bewegung Richtung Ball kann man ein Indiz für ein absichtliches Handspiel erkennen, also dass Lienhardt den Ball mit der Hand spielen wollte. Dass allerdings nicht nur die Hand zum Ball geht, sondern der ganze Körper, spricht wiederum dafür, dass Lienhardt den Ball nicht mit der Hand, sondern mit der Brust bzw. der Schulter spielen wollte. Im Zweifel kann das nur Lienhardt beantworten. Man kann Spielern eben nicht in den Kopf schauen – und genau das war schon immer ein Problem der Handspielregel, die vorrangig danach gefragt hat, ob das Handspiel absichtlich erfolgt ist und dafür verschiedene Hilfskriterien zur Verfügung stellte (Bewegung Hand zum Ball oder umgekehrt? Handhaltung natürlich? Distanz, aus der der Ball kommt?).

Um diese Schwierigkeiten und den damit verbundenen Graubereich zu reduzieren, wurde die Handspielregel 2019 reformiert und stärker objektiviert. Zwar ist Absicht immer noch ein möglicher Grund für ein strafbares Handspiel, allerdings nicht mehr der Einzige. Auch hat man in der Praxis eher seltener Probleme mit absichtlichen Handspielen in diesem Sinne. Viel wichtiger sind die objektiven Kriterien, v.a. die Frage, ob der Spieler die Körperfläche in unnatürlicher Weise vergrößert hat. Das kann man besser beurteilen als die Frage, was im Kopf eines Spielers vorgeht. Der Spieler, der die Hand auf unnatürliche Weise vom Körper wegbewegt, geht das Risiko ein, mit dieser Hand den Ball zu berühren und dementsprechend ein Handspiel zu verursachen. Zwar wird man beim Freitagsspiel Valentini keine zielgerichtete Absicht unterstellen können, allerdings ist die Hand wohl weiter vom Körper entfernt als das notwendig ist. Das kann man als unnatürliche Handhaltung sehen, man kann es aber auch durch die Bewegung erklären. Auch hier befinden wir uns also nach wie vor im Graubereich.

Und wann greift der Videoassistent ein?

Warum also griff Bibiana Steinhaus am Freitag ein, am Samstag dagegen meldete sie sich nicht, obwohl doch beide Szenen (nur) im Graubereich lagen? Der Grund hierfür liegt in den zwei Eingriffsgründen des Videoassistenten. Anders als häufig in der öffentlichen Wahrnehmung behauptet, darf der Videoassistent nämlich nicht nur bei „klaren und offensichtlichen Fehlentscheidungen“ eingreifen, sondern auch bei „schwerwiegenden übersehenen Vorfällen“. Ein solcher schwerwiegender übersehener Vorfall liegt vor, wenn der Schiedsrichter bei einer der „Auslöserszenen“ (Rote Karte, Tor, Strafstoß, Spielerverwechslung) die Situation so wahrgenommen hat, dass sie in einem wesentlichen Punkt nicht mit den TV-Bildern in Einklang gebracht werden kann. Deshalb sieht man den Schiedsrichter bei Videochecks auch häufig mit dem Videoassistenten reden – er beschreibt hier seine Wahrnehmung. Dürfte der Videoassistent nur bei klaren und offensichtlichen Fehlentscheidungen eingreifen, könnte er das eigenständig in Köln entscheiden, Aussagen des Schiedsrichters bräuchte er dafür nicht.

Und genau das ist der Grund, warum Bibiana Steinhaus am Freitag eingegriffen hat. Schiedsrichter Dr. Matthias Jöllenbeck hatte das Handspiel als solches überhaupt nicht wahrgenommen. Seine Wahrnehmung der Szene (Kein Kontakt mit der Hand) lässt sich also mit den TV-Bildern, die einen Kontakt mit der Hand eindeutig zeigen, nicht vereinbaren. Am Samstag dagegen hatte Benjamin Cortus das Handspiel wahrgenommen, aufgrund er Handhaltung relativ nahe am Körper jedoch nicht als strafbar bewertet. Diese Wahrnehmung stimmt mit den TV-Bildern überein, damit liegt kein schwerwiegender übersehender Vorfall vor. In Betracht kommt also nur noch eine klare und offensichtliche Fehlentscheidung. Angesichts des Graubereichs kann man eine solche hier aber auch nicht annehmen. Generell kommt es so gut wie nie zum Eingriff wegen klarer und offensichtlicher Fehlentscheidungen, sondern fast immer wegen schwerwiegender übersehener Vorfälle. Das ist auch logisch: Die Schiedsrichter kennen die Regeln ja sehr gut und wenn sie die Szene richtig wahrnehmen, treffen Sie normalerweise keine falsche Entscheidung. Der Knackpunkt liegt meistens bei der Wahrnehmung der Szene.

Aber ist das nicht willkürlich und intransparent?

Dadurch erklären sich auch die vermeintlich willkürlichen und intransparenten Eingriffe bzw. Nichteingriffe der Videoassistenten: Ob sie eingreifen dürfen bzw. müssen, hängt in der Praxis meist von der Wahrnehmung des Schiedsrichters ab, die ist aber in jeder Szene unterschiedlich. Willkürlich ist das aber nicht, weil sich Willkür dadurch auszeichnet, dass die unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Szenen keinen sachlichen Grund hat. Die unterschiedliche Wahrnehmung stellt aber einen solchen sachlichen Grund dar. Intransparent ist das jedoch auf den ersten Blick. Entsprechende Transparenz könnte man aber nur mit einer Veröffentlichung des Funkverkehrs herstellen. Das ist aber zum einen schon datenschutzrechtlich fragwürdig, vor allem aber würde das die Effizienz der Entscheidungsfindung schmälern, weil Schiedsrichter und Videoassistent immer aufpassen müssten, ob man den Funk in der Öffentlichkeit – gerade ohne Kenntnis des „schiedsrichtertypischen Vokabulars“ – missverstehen könnte, statt frei von der Leber zu sprechen. Dadurch entstehen aber wiederum Missverständnisse im Funkverkehr und es kommt zu mehr Fehlern.

In meinen Augen ist eine ungleiche Behandlung (vermeintlich) gleicher Szenen bei unterschiedlichen Wahrnehmungen aber auch nicht tragisch, wenn man sich der Rolle des Videoassistenten als Assistenten – und eben nicht als Videobeweis – bewusst wird. Ein Assistent soll den Schiedsrichter unterstützen, nicht überstimmen. Das bringt aber mit sich, den Ermessensspielraum des Schiedsrichters zu respektieren, weshalb man nur eingreifen kann, wenn dieser Spielraum überschritten ist (klare offensichtliche Fehlentscheidung) – oder dem Schiedsrichter wesentliche Informationen fehlen bzw. er Fehlinformationen aufgesessen ist (schwerwiegender verpasster Vorfall).

Was wäre eine alternative Lösung?

Es gäbe tatsächlich zwei Möglichkeiten, das Intransparenz-Dilemma zu lösen. Man könnte den Schiedsrichter bei jeder in Betracht kommenden Szene, die nicht eindeutig richtig entschieden wurde, zum Bildschirm schicken, um die Situation anhand der Bilder neu zu bewerten. Das würde allerdings zu viel mehr On-Field-Reviews führen und den Spielfluss stören, außerdem würde das die Autorität der ersten Entscheidung schwächen.

Besser wäre dagegen die zweite Lösung: Die eigene Prüfungskompetenz des Videoassistenten beschränkt sich auf faktische Entscheidungen (z.B. Steht ein Spieler im Abseits? War der Ball an der Hand – Stichwort Offensivhandspiel? War der Ball im Aus?), die sich mit mathematischer Sicherheit und ohne jeden Spielraum beantworten lassen. Für die nicht-faktischen Entscheidungen, also solche, bei denen der Schiedsrichter etwas bewerten muss (z.B. Zweikampfbewertung, Eingreifen beim Abseits, Strafbarkeit des Handspiels), würde man dagegen ein Challenge-System einführen, das dann aber auch dazu führt, dass der Schiedsrichter die Szene (außer in klaren Missbrauchsfällen, die dann auch entsprechend sanktioniert werden müssten) am Bildschirm noch einmal neu bewerten muss. Dann wäre eindeutig geregelt, wann Videos zur Entscheidung herangezogen werden und wann die Entscheidung am Feld bestehen bleibt. Betrachtet man den Videoassistenten als Assistenten, könnte man dem Schiedsrichter noch die (aktuell übrigens auch bestehende) Kompetenz einräumen, die Videos selbst zu Rate zu ziehen. Dann müsste man aber empfindliche Strafen für das Fordern, von dieser Kompetenz Gebrauch zu machen, einführen. Andernfalls hätte man nämlich nach strittigen Entscheidungen eine Traube von Spielern um den Schiedsrichter, die fordern „Schau’s Dir nochmal selbst an!“, vor allem wenn das vermeintlich benachteiligte Team keine Challenge mehr hat. Das wären aber Details, die man dann regeln müsste und könnte.

Das IFAB aber ist kein Freund eines solchen Challengesystems, da man die Entscheidung nicht von den Profis (Schiedsrichter) in die Hände von (vermeintlichen) „Regellaien“ (Trainer) legen möchte. Das ist ein Stück weit nachvollziehbar. Mit Blick auf die wichtige Rolle der Transparenz bei der Akzeptanz wäre es aber wünschenswert, wenn man diese Blockadehaltung aufgeben und Testläufe zulassen würde. Wenn Fans und Öffentlichkeit verstehen, warum die Videobilder zur Rate gezogen werden oder nicht, wird die Akzeptanz des Videoassistenten erheblich steigen. Ein Versuch wäre es wert…

27.09.2020 10:24


RazFaz


Hallescher FC-FanHallescher FC-Fan


Mitglied seit: 19.06.2020

Aktivität:
Beiträge: 53

Zitat Autor Gründel:
"Willkürlich ist das aber nicht, weil sich Willkür dadurch auszeichnet, dass die unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Szenen keinen sachlichen Grund hat. Die unterschiedliche Wahrnehmung stellt aber einen solchen sachlichen Grund dar. Intransparent ist das jedoch auf den ersten Blick. Entsprechende Transparenz könnte man aber nur mit einer Veröffentlichung des Funkverkehrs herstellen. Das ist aber zum einen schon datenschutzrechtlich fragwürdig, vor allem aber würde das die Effizienz der Entscheidungsfindung schmälern, weil Schiedsrichter und Videoassistent immer aufpassen müssten, ob man den Funk in der Öffentlichkeit – gerade ohne Kenntnis des „schiedsrichtertypischen Vokabulars“ – missverstehen könnte, statt frei von der Leber zu sprechen. Dadurch entstehen aber wiederum Missverständnisse im Funkverkehr und es kommt zu mehr Fehlern."

Laut Gründel gibt es also keine Willkür bei Schiedsrichterentscheidungen, sondern lediglich verschiedene "Wahrnehmungen", ergo also auch Wahrnehmungsfehler und damit Falschentscheidungen.

Das erleben wir tatsächlich an jedem Spieltag - für den einen Schiri/VAR ist es ein elfmeterwürdiges Foul oder Handspiel, für den anderen dagegen keines.

Sehr problematisch wird es allerdings, wenn der gleiche Schiri/VAR das innerhalb ein und derselben Partie so praktiziert.
Oft genug erleben wir ja eben genau das innerhalb ein und desselben Fussballspiels (zuletzt Foulelfmeter BVB gegen BMG).

Deshalb wäre ich hier im Zweifelsfall dafür, dass der Schiri bei solch strittigen und sensiblen Wahrnehmungsentscheidungen lieber einmal öfter die Szenen am Bildschirm in Zeitlupe studiert, als blind auf seine unerschütterlichen Wahrnehmung zu setzten.

Ausserdem unterliegt die Aussage Gründels der sehr positiven ja fast gerade naiven Annahme, dass Schiri und VAR stets immer unparteiisch und objektiv handeln.

Kann das ein Mensch überhaupt?
Hat nicht auch ein Schiri seine eigenen Erfahrungen, Sympathien oder Neigungen die er in seine subjektiven "Wahrnehmung" zwangsläufig miteinbringt?
Psychologen bejahen das - Fussball - Regelwerker verneinen das aber nach wie vor.

Auch die Aussage mit dem Datenschutz möchte ich verneinen.
Auch in anderen Sportarten sind die Schiedsrichteraussagen laut und deutlich hörbar (Tennis). Sie müssen in der Kommunikation ja nicht ihre privaten angelegenheiten ausplaudern ;-)

Und wieso Herr Gründel sollte es bei den Schiedsrichterentscheidungen zu mehr Fehlern kommen, wenn die Kommunikation zwischen Schiedsrichter und VAR mitgehört werden kann? 
Diese Annahme kann man nicht belegen, die hörbare Kommunikation könnte genau so gut dazuführen, dass es zu weniger Fehlern kommt.



 


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26.09.2020 08:21


Sonderbarer


VfB Stuttgart-FanVfB Stuttgart-Fan


Mitglied seit: 18.09.2017

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Beiträge: 206

Irgendwie scheint der Artikel nach der Diskussion zum Lienhart-Handspiel genau für mich gemacht worden zu sein.
Letztlich muss ich aber sagen, dass der Willkürfaktor durchaus noch gegeben ist, wenn man mal ein wenig abstrahiert. Denn der VAR hätte demnach problemlos genauso gut eingreifen können, wenn er (bzw. sie in diesem Fall) der Meinung gewesen wäre, dass hier ein Wahrnehumgsfehler seines Kollegen vorlag. Schließlich kann der Schiri aus seiner Perspektive gar nicht so gut erkennen, wie weit der Arm eigentlich ausgestreckt wurde. Demnach kann es nach der hier erstellten Definition selbstverständlich eine "unterschiedliche Behandlung vergleichbarer Szenen" ohne "sachlichen Grund" geben. Denn wenn der eine VAR der Meinung ist, dass das Handspiel strafbar ist, dann greift er ein - und zwar mit gutem Recht, schließlich hat er eine viel bessere Perspektive auf die Szene. Wenn der andere VAR aber der Meinung ist, dass das Handspiel NICHT strafbar ist, dann greift er nicht ein - die Gründe für einen Nichteingriff hast du ja selbst genannt. Sachlich ist hierbei nichts, sondern nur die subjektive Meinung des VAR zählt.

Ansonsten freut es mich, dass ich dazu beitragen konnte, dass ein wahretabelle-Artikel zu diesem Thema erscheint.


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25.09.2020 15:54


BUFU1610


SC Freiburg-FanSC Freiburg-Fan


Mitglied seit: 04.02.2020

Aktivität:
Beiträge: 257

Eine weitere, sehr einfache Möglichkeit sehe ich darin, dass es einfach eine Geste gibt für "nichtstrafbares Handspiel" (oder allgemeiner für "ich hab alles gesehen und das war für mich nicht strafbar").
Dann kann der Schiri kurz Rücksprache halten, seine Wahrnehmung schildern und wenn der VAR dann nicht eingreift/-en darf, kann der SR auf dem Feld die Geste machen und weiter gehts.
Damit sagt der Schiri "hatte Kontakt mit dem VAR, der sagt es wurde nichts Wesentliches übersehen und ich entscheide, dass es weitergeht".

Das Challenge-System halte ich aber auch für eine gute Möglichkeit und so ganz krasse "Laien" sind die Trainer ja im Normalfall auch nicht...


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